Rassismus strukturell denken. Was hat die “Black Lives Matter-Bewegung” mit der “Plough back the fruits“-Kampagne zu tun?

von Boniface Mabanza

Seit der Ermordung des Afroamerikaners G. Floyd in Minneapolis erlebt die Bewegung “Black Lives Matter” (BLM) eine Renaissance und verbreitet sich weltweit. Dieser Artikel versucht, die Zusammenhänge zwischen dieser Bewegung und der Kampagne “Plough back the fruits” (PBF) zu skizzieren.

Rassismus auch bei uns?

In diesen Tagen ist viel von (strukturellem) Rassismus die Rede, als Reaktion auf die weltweiten Proteste gegen Rassismus und Polizeibrutalität, die nach der brutalen Ermordung von George Floyd in Minneapolis am 25. Mai aufgeflammt sind. Die Auseinandersetzungen hat mittlerweile auch Deutschland erreicht. In mehreren deutschen Städten einschließlich Hamburg, München, Berlin, Frankfurt, Stuttgart demonstrieren zahlreiche Menschen, vereint unter dem Motto „Das Leben der Schwarzen zählt“. Die Diskussion hat in Deutschland mittlerweile auch politische Kreise erreicht. Frau Merkels Satz, dass es auch in Deutschland „so etwas wie Rassismus“ gibt wurde von allen Menschen schwarzer Hautfarbe, die tagtäglich rassistischen Erfahrungen ausgesetzt sind, als verharmlosend und verletzend empfunden. Auch wenn die Situation der USA nicht eins zu eins auf Deutschland zu übertragen ist, bezeugt solch eine Formulierung eine gefährliche Verharmlosung, denn Rassismus  ist ein Phänomen, das seit dem Kolonialismus global wirkmächtig geworden ist, zu dessen vermeintlich wissenschaftlicher Begründung deutsche Denker (Kant, Hegel, Ernst Haeckel etc…) und zu dessen Verbreitung deutsche Auswanderer maßgeblich beigetragen haben.

Eine andere Dimension der politischen Diskussion rum um dieses Thema derzeit hier in Deutschland betrifft den von der Fraktion der Grünen angestoßenen Änderungsvorschlag, den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz zu streichen und durch eine andere angemessene Formulierung zu ersetzen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hatte sich dafür bereits ausgesprochen, anstatt den Begriff „Rasse“, das Adjektiv „rassistisch“ zu verwenden.

Symbolisch wäre dies wichtig, denn es ist mittlerweile etabliert, dass jede Einteilung der Menschen in Rassen willkürlich ist und wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht Stand hält, wie die Jenaer Erklärung deutlich macht: „Die vorrangig biologische Begründung von Menschengruppen als Rassen – etwa aufgrund der Hautfarbe, Augen- oder Schädelform – hat zur Verfolgung, Versklavung und Ermordung von Abermillionen von Menschen geführt. Auch heute noch wird der Begriff Rasse im Zusammenhang mit menschlichen Gruppen vielfach verwendet. Es gibt hierfür aber keine biologische Begründung und tatsächlich hat es diese auch nie gegeben. Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.“ Die Jenaer Erklärung plädiert zwar auch für den „Nichtgebrauch des Begriffes Rasse“ in der wissenschaftlichen Sprache, aber sie formuliert auch eine Warnung, die es gilt, ernst zu nehmen:

„Eine bloße Streichung des Wortes „Rasse“ aus unserem Sprachgebrauch wird Intoleranz und Rassismus nicht verhindern. Ein Kennzeichen heutiger Formen des Rassismus ist bereits die Vermeidung des Begriffes „Rasse“ gerade in rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Milieus. Rassistisches Denken wird mit Begriffen wie Selektion, Reinhaltung oder Ethnopluralismus aufrechterhalten.“ Diese Fortsetzung des rassistischen Denkens und Handelns unter anderen Begriffen zeigt, dass es viel mehr bedarf als eines bloßen Streichens des Begriffes Rasse aus dem Grundgesetz. Es bedarf viel mehr Anstrengungen, um Selbst- und Fremdwahrnehmung zu heilen und gesunde Beziehungen aufzubauen. Dies beginnt mit dem Eingeständnis, dass es auch in Deutschland heute Rassismus gibt und dass er sich in vielen Lebensbereichen niederschlägt. Es handelt sich dabei nicht nur um den Alltagsrassismus, der in abwertenden Blicken an Straßenkreuzungen, in Bussen und Bahnen, in der Zurückweisung an der Disko-Tür, in Mikroaggressionen, in Darstellungen in Zeitungen, Büchern, Filmen und Plakaten von Hilfsorganisationen Ausdruck findet, sondern auch um strukturellen Rassismus. Struktureller Rassismus bedeutet nicht, dass alle Menschen, die in Institutionen arbeiten, die Benachteiligungen auf Grundlage rassistischer Merkmale reproduzieren, Rassisten sind, sondern dass die Institutionen nicht dafür ausgerüstet sind, rassistische Handlungen Einzelner verhindern zu können. Dies äußert sich etwa in der Vergabe der Schulnoten, im Zugang zu Bildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten, im Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt und in der Behandlung durch Behörden wie Polizei. Besonders deutlich wird das Problem, wenn die Sicherheitskräfte durch legale sog. verdachtsunabhängige Personenkontrollen rassistische Vorurteile permanent reproduzieren können, da sie erwiesenermaßen besonders häufig „anders Aussehende“ und vor allem Schwarze Menschen verdächtigen.

Dass die Erwähnung eines strukturellen Rassismus in Deutschland reflexartig Abwehr und Rechtfertigungen hervorruft, ist nicht verwunderlich. Struktureller Rassismus ist schwieriger zu erkennen und aufzuarbeiten als individuelle Formen rassistisch motivierter Diskriminierungen. Dies gilt sowohl für die nationale Ebene als auch für die internationale Ebene.

Koloniale Strukturen bestehen fort

Ehemalige Kolonialmächte in Europa tun sich schwer, sich kritisch und konsequent mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Solange das nicht geschieht, werden auch Rassismus und Kolonialismus fortwirken und deren Überwindung eine Chimäre bleiben. In seinem Artikel „Angesichts unserer kolonialen und sklavenbesitzenden Vergangenheit, dem Rassismus entgegentreten, die Geschichte reparieren“ schreibt Thomas Piketty: „Die Welle der Mobilisierung gegen Rassismus und Diskriminierung wirft eine entscheidende Frage auf: die der Wiedergutmachung angesichts einer kolonialen und sklavenfeindlichen Vergangenheit, die entschieden nicht vorübergeht. Wie komplex das Thema auch sein mag, es kann nicht für immer vermieden werden, weder in den Vereinigten Staaten noch in Europa“. Die Welle der Mobilisierung der letzten Wochen hat gezeigt, wie präsent diese Vergangenheit  durch die Erinnerungskultur und die Straßennamen, welche manche Städte noch prägen. Es sind all diese Symbole, die es zu überwinden gilt. Aber es geht auch im Umgang mit Rassismus darum, das herrschende „Wirtschaftssystem zu verändern, wobei die Verringerung der Ungleichheiten die Grundlage bilden muss.

Black Lives Matter und Plough Back The Fruits

Beide Kampagnen haben zunächst gemeinsam, dass sie auf Ereignisse zurückzuführen sind, die beide 2012 stattfanden: die Erschießung des afroamerikanischen Teenagers Trayvon Martin im Februar 2012 für die BLM-Bewegung und das Massaker von Marikana in Südafrika am 16. August 2012 für die PBF-Kampagne. Der Katalysator für die BLM-Bewegung, die in 2013 mit der Verwendung des Hashtags #BlackLivesMatter in sozialen Medien begann, war der Freispruch des Sicherdienstmannes George Zimmerman, dem Mörder von Trayvon Martin. Dieser Freispruch bestätigte einen Trend im US-amerikanischen Justizsystem, das allzu oft  Mitglieder der Sicherheitskräfte, die ihre Macht missbrauchen und Verbrechen gegenüber Afroamerikanern begehen, straflos davonkommen lässt.  Die Bewegung intensivierte sich mit den Ermordungen von Michael Brown und Eric Garner in 2014 und bei jeder weiteren Ermordung von Afroamerikanern durch Polizeigewalt oder zivile „White Supremacists“ wurden Proteste organisiert.  Die Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 schließlich, ließ die Bewegung global in Erscheinung treten. Auch in Südamerika, in Kanada, in Europa, in asiatischen  und in vielen afrikanischen Ländern protestieren Menschen gegen Polizeigewalt und generell gegen die Ungerechtigkeiten, die Afroamerikaner und Menschen afrikanischer Abstammung seit den Eroberungen der Europäer*innen erleben. So hatte auch die UNO 2014 beim Auftakt der UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft (2015-2024) festgestellt, dass besonders Menschen afrikanischer Abstammung noch häufig Rassismus, Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt sind.

Die Kampagne „Plough back the fruits“ startete erst drei Jahre nach dem Massaker von Marikana in Südafrika, nachdem die langjährigen Geschäftsbeziehungen zwischen dem britisch-südafrikanischen Platinproduzent Lonmin und dem deutschen Chemiekonzern BASF bekannt wurden. Die Kampagne setzt sich für die Entschädigung der Hinterbliebenen des Massakers von Marikana in Südafrika ein, für die Witwen und zu Unrecht verhafteten Minenarbeiter, und engagiert sich für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen  in den Platinminen Südafrikas. Wie im Fall von BLM steht auch im Massaker von Marikana Polizeigewalt im Mittelpunkt. Parallelen zwischen Militarisierung der Polizei in der Geschichte der USA und in Südafrika während der Apartheid sind frappierend. In Südafrika wurde die Militarisierung der Polizei auch nach der sogenannten demokratischen Wende von 1994 fortgesetzt und es ist bezeichnend, dass das Massaker von Marikana unter einer Regierung der ehemaligen Befreiungsbewegung African National Congress stattfand. Die Brutalität des Ereignisses erinnert an ähnliche Massaker in Soweto (1976) und Sharpville (1960) während der Apartheid.  Wie in den USA weist auch in Südafrika die Polizeigewalt eine erschreckende Kontinuität auf. Sie richtet sich gegen die armen und ausgeschlossenen Schwarzen in den Townships, aber auch gegen die Farm- und Minenarbeiter, jedes Mal wenn sie ihre Stimmen erheben, um ihr Recht auf Leben (in Würde) geltend machen wollen.

Das Massaker von Marikana wurde im Dokumentarfilm „Miners Shot Down“ dokumentiert. In diesem Film beschreibt einer der Arbeiter, „wie billig das Leben der schwarzen Menschen in Südafrika ist“. Er fragt sich, was das Leben der schwarzen Menschen in Afrika wert ist.  Ein anderer Minenarbeiter, Mzoxolo Magidwana, der beim Massaker neun Mal von einer Kugel getroffen wurde, doch wie durch ein Wunder überlebte und am 12. Mai 2017 für die Kampagne PBF bei der BASF-Hauptversammlungen sprach, erinnert im Film daran, wie sich die Geschichte in Südafrika wiederholt: Seit Generationen arbeiten schwarze Familien in den Minen, an den Lebens- und Arbeitsbedingungen hat sich nicht viel verändert.  Auf der Seite der Arbeitsgeber stehen ebenfalls mehrere Generationen weißer Familien. Die Logik der Ausbeutung ist die gleiche geblieben. An dieser strukturellen Ungerechtigkeit hat auch die Übertragung der Symbole der Macht an schwarze Eliten seit 1994 nichts geändert. Die Ungerechtigkeiten sind derart internalisiert, dass sie auch dort  reproduziert werden, wo schwarze Personen zu Gesichtern der Geschäftswelt geworden sind, wie das bei Lonmin der Fall war. So gesehen ist das Massaker von Marikana genauso wie die Ermordungen der Afro-Amerikaner in den USA mehr als eine Geschichte von Polizeigewalt:

“ Amerika hat nicht nur ein Problem der Polizeibrutalität. Es ist eine Gesellschaft, die nie angemessen mit ihrem Erbe der Sklaverei umgegangen ist. Diese Schande als ein polizeiliches Problem darzustellen, ermöglicht es einfachen Amerikanern, der harten Arbeit zu entkommen, die eine ganze Gesellschaft leisten muss, um die unzähligen Arten zu hinterfragen, in denen die Geschichte der Sklaverei bis ins Hier und Jetzt reicht. Es ist nicht anders als bei uns in Südafrika, wenn das Massaker von Marikana lediglich als ein Beispiel für Polizeibrutalität dargestellt wird. Das ist einfach zu großzügig. Die ganze Wahrheit ist hässlicher. Marikana enthüllte die gewalttätigen Grundlagen unserer ganzen Gesellschaft. Und eine eindeutig formale politische Gleichheit, ob hier oder in den USA, garantiert keinen effektiven Respekt für das schwarze Leben. Die Welt muss sich dieser Schande stellen, anstatt sich eine lineare Geschichte des moralischen Fortschritts auszumalen“, kommentierte der südafrikanische Buchautor und Radio-Moderator Eusebius Mckaiser.

Mit dieser Analyse ist er nicht allein da. Auch die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet hat nach dem Tod von George Floyd durch einen brutalen Polizeieinsatz in den USA die gegenwärtige rassistische Gewalt als „Erbe des Sklavenhandels und Kolonialismus“ angeprangert: „Hinter der heutigen rassistischen Gewalt, dem systemischen Rassismus und der diskriminierenden Polizeiarbeit steht das Versäumnis, das Erbe des Sklavenhandels und des Kolonialismus anzuerkennen und sich ihm zu stellen.“ Michelle Bachelet, ehemalige Präsidentin Chiles, hat diese starken Worte bei einer von afrikanischen Ländern beantragten Sitzung des UN-Menschenrechtsrats über Rassismus und Polizeigewalt formuliert. Sie hat sich  für „Reparationen in verschiedenen Formen“ ausgesprochen. Das Pikante an dieser Forderung nach Reparationen, ist dass die offizielle Beendigung der Versklavung von Menschen afrikanischer Herkunft, um dieses Beispiel aufzugreifen, immer mit Reparationen einherging, allerdings nicht zugunsten der Opfer, sondern der bisherigen Täter: „Sowohl im Vereinigten Königreich als auch in Frankreich ging die Abschaffung der Sklaverei stets mit einer Entschädigung der Eigentümer durch den Staat einher. (…) Für die  Abschaffung der Sklaverei in 1833 wurde somit das Äquivalent von 5% des britischen Nationaleinkommens (heute 120 Milliarden Euro) an 4.000 Eigentümer gezahlt, mit einer durchschnittlichen Entschädigung von 30 Millionen Euro, was der Ursprung vieler heute noch sichtbarer Vermögen ist.“ Im gleichen Kontext ist die hohe Verschuldung zu erwähnen, die 1825 der französische Staat Haiti nach seiner Unabhängigkeit in 1824  auferlegte, um die französischen Eigentümer für den Verlust ihres Sklavenbesitzes zu entschädigen. Diese beträchtliche Summe entsprach 300% des damaligen haitianischen BIP. Haiti bezahlte diese „Schulden“ bis 1950 und verlangt heute von Frankreich 30 Milliarden Euro Reparationszahlungen. BLM und PBF haben gemeinsam, dass beide Kampagnen sich auf eine mitnichten abgeschlossene oder aufgearbeitete Geschichte von Erniedrigung und Ausbeutung beziehen. Manifestationen davon sind Polizeigewalt, aber genauso das Agieren von Unternehmen, die heute noch für ihre Profite „die Verdinglichung des Schwarzen Menschen“ (Achille Mbembe) in Kauf nehmen.

Fazit

Viele würden sagen: Wie können nicht dafür, dass unsere Großväter andere Menschen versklavt, kolonialisiert, ausgebeutet  und zur Rechtfertigung ihrer Praktiken entmenschlicht haben. Diese Großväter aber haben ausbeuterische Strukturen etabliert, die heute noch Bestand haben. Sie sind im Handelssystem, in der Finanzarchitektur, in der Schuldenpolitik,  in der Erinnerungskultur zu beobachten. Einige der Institutionen, die gegründet wurden als die meisten afrikanischen Länder noch Kolonien waren (IWF, Weltbank) existieren noch. Andere wie die Welthandelsorganisation sind hinzugekommen, aber auch in ihnen spiegeln sich die alten Machtverhältnisse wider.  Die jetzigen Generationen in den ehemaligen Kolonialmächten und in den USA profitieren von solchen Strukturen.  Sie können dafür sorgen, dass es anders wird. Unsere Vergangenheit ist schrecklich, aber sie lässt sich nicht ändern. Auf die jetzigen und zukünftigen Verhältnisse können wir Einfluss nehmen.  Dies beginnt damit, die mentalen und institutionellen Infrastrukturen des Rassismus zu überwinden. Wer sich zum Anti-Rassismus (siehe Ibram X. Kendi, How to be an Antiracist, One World, 2019) bekennt, muss sich für eine grundlegende Transformation der Rahmenbedingungen einsetzen, um eine gerechte Gesellschaft aufzubauen. Mit anderen Worten, Anti-Rassismusarbeit ist keine kulturalistische Angelegenheit, sondern eine Auseinandersetzung mit Privilegien auf der einen Seite und mit den psychischen Folgen von generationenübergreifenden Rassismustraumata und dem fortdauernden Mangel an Ressourcen und Chancen auf der anderen Seite. Genau das führen uns BLM und PBF vor Augen.