Marikana und Südafrika: Acht Jahre später

Von Boniface Mabanza, Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika KASA

Das Massaker vor acht Jahren

Acht Jahre sind vergangen seit dem 16. August 2012, jenem Nachmittag, an dem die südafrikanische Polizei, angestachelt von Hardlinern in der Regierung und im Bergbausektor beschloss, einen lang anhaltenden Streik der Minenarbeiter von Marikana gewaltsam zu beenden: 34 Bergleute fielen den gezielten Schüssen der Polizei an jenem Nachmittag zu Opfer. Seitdem hat der 16. August eine besondere Bedeutung im kollektiven Gedächtnis erhalten, denn Marikana stellt das erste und bis jetzt größte Massaker der politischen Post-Apartheid-Ära dar, vergleichbar in ihrer Tragweite mit den Massakern von Sharpeville im Jahr 1960 und Soweto im Jahr 1976. In den vergangenen 7 Jahren haben sich zu jedem Jahrestag am 16. August landesweit und sogar über Südafrika hinaus kleine und große Initiativen mobilisiert, um die Erinnerung an die getöteten Minenarbeiter und ihren Kampf für gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen lebendig zu erhalten. Die zentrale und größte dieser Gedenkveranstaltungen fand immer in Marikana statt, unweit des Koppies, jenem Ort, an dem sich die Minenarbeiter im August 2012 bis zum Massaker versammelten, um ihre Stimmen hörbar zu machen.

In diesem Jahr wird aufgrund der sich in Südafrika noch verbreitenden Corona-Pandemie die zentrale Gedenkveranstaltung in Marikana nicht physisch stattfinden, aber das Massaker von Marikana wird allgegenwärtig sein und dies in einem Kontext, in dem der Kampf der Minenarbeiter für menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen eine neue Bedeutung gewinnt. 2012 protestierten die Minenarbeiter*innen gegen ihre schlechte Wohnsituation, den fehlenden Zugang zu fließendem Wasser und Elektrizität, Abwassersystemen und adäquaten sanitären Einrichtungen für die meisten von ihnen, die damals wie heute in informellen Siedlungen in und rund um Marikana wohnen. Zudem verlangten die Arbeiter*innen ein Mindestgehalt von 12500 Rand (Stand 2012 umgerechnet ca. 1182€). Laut damaliger Berechnungen sollte dieser Betrag es ermöglichen, dass sie und ihre in ihren Heimatprovinzen und in den umliegenden Ländern des Südlichen Afrika verbliebenen Familienmitglieder ein Leben in Würde führen können. Diese Summe wurde als das Minimum angesehen, das den Minenarbeiter*innen und ihren Familien ermöglichen könnte, Resilienzen und Zukunftsperspektiven aufzubauen. Acht Jahre danach gilt es festzustellen, dass 12500 Rand (Stand 2020 umgerechnet ca. 605€) in Südafrika unter Berücksichtigung der hohen Inflation, des Wertverlustes der nationalen Währung Rand und der hohen Preise u.a. für Nahrungsmitteln und viele Alltagsgegenstände, nicht mehr den gleichen Wert besitzen. Und nicht nur unter den Minenarbeiter*innen, sondern auch in zahlreichen weiteren Sektoren gibt es etliche Arbeiter*innen, deren Monatsgehalt niedriger als 12500 Rand ist. All diese Menschen in den verschiedenen Sektoren der staatlich geschützten südafrikanischen Billiglohnökonomie, zu denen auch die zahlreichen Beschäftigten im informellen Sektor zu zählen sind, haben es immer schwer gehabt, Resilienzen zu bilden. Sie betreiben eher Krisenmanagement, indem sie versuchen, das alltägliche Überleben zu sichern.

Jahrestag im Kontext von Protesten gegen die Prekarität

Diese Prekarität in der Form einer extremen Armut, die in Südafrika laut Statistics South Africa 25,2  Prozent der Bevölkerung betrifft, wurde nun durch den zur Eindämmung der Corona-Pandemie verhängten Lockdown zusätzlich verschärft. So wird der Jahrestag des Marikana-Massakers in diesem Jahr in einem nationalen Kontext gedacht, der wieder von Protesten geprägt ist. Einer dieser Proteste fand beispielsweise Anfang des Monats am „Nationalen Tag für Aktionen der Arbeiterklasse“ statt:

„Am Samstag, dem 1. August haben sich Gemeinden und Organisationen im ganzen Land in Aktionen zusammengeschlossen, um gegen die düstere Reaktion des Staates auf die COVID-19-Pandemie und die verheerenden Auswirkungen dieser Reaktion auf die Arbeiterklasse und die Armen in Südafrika zu protestieren. Sowohl in tief ländlichen Gebieten als auch in den wichtigsten städtischen Zentren schlossen sich Landarbeiter, Beschäftigte im Gesundheitswesen und Gelegenheitsarbeiter*innen mit Gemeinden zusammen, darunter Arbeitslose, Wellblechhüttenbewohner*innen, Aktivist*innen gegen geschlechterspezifische Gewalt, Wohnungsbau- und Menschenrechtsbewegungen. Während die meisten marschierten und demonstrierten, übernahmen andere Teile des städtischen Landes für gemeinschaftliche Lebensmittelgärten, gruben die Erde um und pflanzten Setzlinge.“[2]

Die Veranstalter zählen diesen Protest als den umfangreichsten seit 1994, nicht gemessen an der Zahl der Menschen, die sich an den verschiedenen Aktionen beteiligt haben, sondern „aufgrund der nationalen Reichweite und der Kombination aus ländlichen und städtischen Gemeinden, Arbeiter*innen und vielen verschiedenen Organisationen, die zuvor nicht zusammengearbeitet haben.“ Dass diese Aktionen eine nationale Reichweite gehabt haben, interpretieren die Veranstalter*innen als einen „Hinweis auf die Wut großer Teile der Bevölkerung, welche durch das Vorgehen von Regierung und Arbeitgeber*innen tiefer in Prekarität gestürzt wurde. Regierung und Arbeitsgeber*innen hätten es versäumt, so die Protestierenden, Arbeitsnehmer*innen und arme Gemeinden vor den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu schützen. Unter den zahlreichen Forderungen, die von den Demonstrant*innen im ganzen Land erhoben wurden, waren Folgende zu vernehmen: Ein sofortiges universelles Grundeinkommen, ein universelles Gesundheitssystem und Massentests zur Bekämpfung von Covid-19, feste Arbeitsplätze, menschenwürdige Unterkünfte und sauberes Wasser für alle, rasche Freigabe von Land für Siedlungen und kommunale Landwirtschaft, ein Moratorium für Kündigungen und Zwangsräumungen, ein Ende der polizeilichen Repression und der geschlechtsspezifischen Gewalt, sowie eine Schließung aller Schulen und eine Annullierung des gesamten Schuljahres. Die an den Protesten beteiligten Organisationen sehen die Proteste am 1. August nicht als isoliertes Ereignis, sondern als die erste Aktion eines Programms mit mehreren darauffolgenden Aktivitäten, welche die Kämpfe der Arbeiterklassen im ganzen Land bündeln sollen um neue Synergien zu erzeugen, die durch tiefgreifende Veränderungen ihre Situation dauerhaft verändern.

Der Kampf geht weiter

Den Forderungen der Koalition die Anfang August protestierte, hätten die vor 8 Jahren getöteten Minenarbeiter*innen wohl alle zugestimmt. Die Forderungen nach festen Arbeitsplätzen, menschenwürdigen Wohnungen und sauberem Wasser für alle standen sogar 2012 im Kern ihrer eigenen Proteste: Denn vieler der Arbeiter*innen sahen sich als Leiharbeiter mit prekären Arbeitsverträgen konfrontiert, von der katastrophalen Situation in Marikana in Bezug auf Wohnung und Wasserversorgung ganz zu schweigen. Wenn die Protestierenden vom 1. August von einem universellen Gesundheitssystem sprechen, meinen sie auch die Situation von vielen Minenarbeiter*innen, die seit Jahrzehnten durch ihren Einsatz in den gefährlichen Minen Gesundheitsrisiken wie Tuberkulose und Silikose ausgesetzt sind, erkrankt in ihre Heimatregionen zurückkehren und ohne konsequente medizinische Versorgung dort auf den Tod warten.

Es ist von Menschen die Rede hier, die einige der wertvollsten Metalle wie Platin und Gold aus dem Boden holen, mit denen ihre jeweiligen Unternehmen, im Fall von Platin gestern Lonmin und heute Sibanye Stillwater große Profite schlagen. Auch der Forderung nach einem universellen, bedingungslosen Grundeinkommen hätten die Minenarbeiter von Marikana 2012 zugestimmt, denn ihre Gehälter ermöglichten es ihnen damals nicht, ein Leben in Würde zu führen. Ein konsequentes Grundeinkommen, das auch deren Familienmitgliedern zugutekäme, hätte ihnen den Druck als einzige „Bread Winners“ ihrer Familien abgenommen und den Familien insgesamt stünde mehr zur Verfügung, um ohne alltäglichen Kampf die eigenen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Doch noch heute, acht Jahre nach dem Massaker von Marikana, sehen sich die Familien der Verstorbenen mit dem bloßen Überlebenskampf konfrontiert und Marikana gilt mittlerweile als Synonym für den Kampf um Menschenwürde und Wertschätzung der Leben der Minenarbeiter*innen, der nicht an Aktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil: Die Auswirkungen der Corona-Pandemie machen die Konturen des täglichen Überlebenskampfes für die gesamte südafrikanische Gesellschaft noch sichtbarer. Die Minenarbeiter*innen sind feste Bestandsteile und wichtige Akteur*innen dieser Gesellschaft. Was ihre Situation zu einem besonderen Skandal macht ist das Paradox, dass sie zu einem Sektor gehören, der in großen Maßen Reichtum für ein paar wenige Profiteure in Südafrika und weltweit generiert und gleichzeitig die eigene Arbeiterschaft in tiefster Armut versinken lässt. Daher muss der Kampf um strukturelle Veränderungen weitergehen. Denn die Minenarbeiter*innen, die von Rohstoffabbau betroffenen Gemeinschaften und die südafrikanische Bevölkerung müssen endlich Gerechtigkeit erfahren können. „Aluta Continua, Victoria Ascerta!“ – „Der Kampf geht weiter, der Sieg ist sicher!“